
Einleitung
Die Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) ist eine komplexe Funktionsstörung im Zusammenspiel zwischen Schädel (Cranium) und Unterkiefer (Mandibula). Was zunächst nach einem isolierten Problem des Kiefergelenks klingt, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung oft als eine systemische Störung mit weitreichenden Auswirkungen auf den gesamten Körper. Als ganzheitlich arbeitender Physiotherapeut sehe ich tagtäglich, wie eng das Kausystem mit der Wirbelsäule, dem Nervensystem, den Sinnesorganen und der Körperhaltung verknüpft ist.
Was ist CMD?
CMD bezeichnet eine Fehlfunktion der Kiefergelenke, der Kaumuskulatur sowie der angrenzenden Strukturen. Diese Störung kann mechanische, funktionelle, aber auch emotionale und neurologische Ursachen haben. Die Beschwerden äußern sich nicht nur lokal im Kieferbereich, sondern können sich auf den gesamten Körper auswirken.
Unerklärliche Beschwerden? Der Kiefer könnte der Schlüssel sein
CMD wird oft als „Chamäleon der Medizin“ bezeichnet, weil es so viele unterschiedliche Symptome auslösen kann:
- Kiefergelenksschmerzen oder -knacken
- Zähneknirschen oder -pressen (Bruxismus)
- Kopfschmerzen, insbesondere Migräne
- Tinnitus oder Ohrgeräusche
- Schwindel
- Nackenschmerzen, Schulterverspannungen
- Wirbelsäulenprobleme, z. B. funktionelle Skoliosen
- Atemprobleme, Kurzatmigkeit, Brustenge
- Stimm- und Sprachstörungen, sogar Stottern
- Chronische Nebenhöhlenentzündungen
- Sehstörungen, Konzentrationsprobleme
- Psychosomatische Beschwerden, wie Angst oder depressive Verstimmungen
Wann sollte man an CMD denken?
Viele Patienten erhalten zunächst andere Diagnosen, da ihre Beschwerden auf den ersten Blick nicht mit dem Kiefer in Zusammenhang stehen. Ein ganzheitlicher Ansatz ist daher entscheidend, um die zugrunde liegende Dysfunktion zu erkennen. CMD sollte insbesondere dann in Betracht gezogen werden, wenn:
- konventionelle Behandlungen keine Besserung bringen
- mehrere Symptome gleichzeitig auftreten (z. B. Migräne und Tinnitus)
- die Beschwerden nach Zahnbehandlungen, Unfällen oder Operationen beginnen
- Fehlstellungen im Biss oder auffällige Körperhaltungen bestehen
Ursachen von CMD – ein vielschichtiges Geflecht
CMD entsteht häufig durch eine Kombination aus strukturellen, funktionellen, emotionalen und neurologischen Faktoren:
- Zahnfehlstellungen oder kieferorthopädische Behandlungen
- Fehlbiss (z. B. Überbiss, Kreuzbiss)
- Bruxismus durch Stress, Ängste oder Traumata
- Unfälle, insbesondere Schleudertrauma oder Stürze auf den Kopf
- Schädelhirntraumata oder Kieferfrakturen
- Falsche Kaugewohnheiten, z. B. einseitiges Kauen
- Neurologische Erkrankungen, z. B. nach Schlaganfall oder bei Spastiken
- Narben oder Faszienverklebungen im Bereich Kopf, Nacken oder Brust
- Frühkindliche Schädelverformungen (Plagiozephalie)
- Fehlhaltungen, z. B. durch sitzende Tätigkeiten oder Smartphone-Nacken
- Kampfsport- und Kontaktsportarten, bei denen das Kiefergelenk häufig Stößen ausgesetzt ist
CMD in besonderen Kontexten
CMD bei Spastik oder Parese
Patienten mit neurologischen Erkrankungen wie infantiler Zerebralparese oder nach Schlaganfall entwickeln häufig pathologische Muster im Kieferbereich. Muskeltonusveränderungen, verändertes Schluckmuster und gestörte Kopfkontrolle führen zu Dysbalancen im Craniomandibulären System.
CMD nach Schädelhirntrauma oder Unfällen des Bewegungsapparates
Unfälle, selbst wenn sie auf den ersten Blick nur Schulter oder Becken betreffen, können über Faszienketten und reflektorische Schutzmechanismen Auswirkungen auf das Kiefergelenk haben. CMD kann sich in Folge solcher Traumata schleichend entwickeln.
CMD und Skoliose
Die Körperstatik wird maßgeblich vom Kiefer beeinflusst. Eine Fehlstellung des Kiefergelenks kann die Wirbelsäule funktionell beeinflussen, z. B. in Form einer Beckenschiefstellung oder einer adaptiven (funktionellen) Skoliose – besonders bei Kindern und Jugendlichen in der Wachstumsphase.
CMD und Migräne, Tinnitus, Stottern
Die Nähe des Kiefergelenks zu Strukturen wie dem Nervus trigeminus, dem Nervus facialis und dem Innenohr erklärt, warum CMD diese Symptome auslösen oder verstärken kann. Auch Sprachzentren und die Zungenkoordination können betroffen sein – mit Auswirkungen auf das Sprechen und Schlucken.
CMD bei chronischer Sinusitis und Atemproblemen
Ein veränderter Biss kann den Gaumen, das Nasenseptum und die Nasennebenhöhlen mechanisch beeinflussen. Fehlfunktionen im Mund- und Kieferraum führen zu unphysiologischer Atmung – häufig über den Mund statt die Nase.
CMD im Kindesalter – Schädelverformungen und Entwicklungsstörungen
Frühkindliche Schädelasymmetrien oder Geburtstraumata können bereits im Säuglingsalter zu Spannungen im Kiefer- und Nackenbereich führen. Unbehandelt entwickeln sich daraus funktionelle Störungen, die das Stillen, die Sprachentwicklung und das Kauen beeinträchtigen.
Ganzheitliche Therapieansätze bei CMD
Die Behandlung der Craniomandibulären Dysfunktion ist so individuell wie die betroffenen Menschen selbst. Aufgrund der vielfältigen Ursachen und Symptome ist meist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit sinnvoll – zum Beispiel zwischen Physiotherapeut:innen, Zahnärzt:innen, Osteopath:innen, Logopäd:innen und ggf. auch Psychotherapeut:innen.
In meiner Praxis steht dabei der ganzheitliche Blick auf den Menschen im Mittelpunkt. Ziel ist es, nicht nur die Symptome zu lindern, sondern die tieferliegenden Ursachen zu erkennen – seien sie körperlicher, funktioneller oder emotionaler Natur.
Je nach Ausgangssituation wird das Behandlungskonzept individuell abgestimmt. Dabei können verschiedene Schwerpunkte gesetzt werden, zum Beispiel die Lösung muskulärer Spannungen, die Wiederherstellung der körperlichen Balance, die Verbesserung der Körperwahrnehmung oder das gezielte Arbeiten an stressbedingten Belastungen. Auch bei neurologischen oder komplexen Fällen wird auf eine sorgfältige und behutsame Vorgehensweise geachtet.
Das Wichtigste dabei: Ihre persönliche Situation, Ihre Bedürfnisse und Ihre Lebensumstände stehen immer im Mittelpunkt. Denn echte Heilung geschieht dann, wenn alle Ebenen – Körper, Geist und Emotion – in Einklang gebracht werden.
CMD ist keine rein körperliche Erkrankung
Gerade bei chronischem Zähneknirschen oder ständigem Zusammenpressen des Kiefers spielt die Psyche eine zentrale Rolle. Unterdrückte Wut, Überforderung oder emotionale Spannungen „beißen wir oft im wahrsten Sinne des Wortes herunter“. Viele Betroffene sind sich dessen gar nicht bewusst – denn das Knirschen und Pressen findet häufig nachts im Schlaf statt. Der Körper verarbeitet dabei unbewusst emotionale Spannungen über die Kaumuskulatur.
In solchen Fällen wird häufig eine Knirscherschiene (Aufbissschiene) vom Zahnarzt empfohlen. Diese kann tatsächlich helfen, die Zähne vor weiterer Abnutzung oder Schäden zu schützen. Doch sie behandelt nicht die eigentliche Ursache – nämlich die muskuläre, emotionale oder funktionelle Fehlregulation im Craniomandibulären System.
Viele merken selbst gar nicht, wie stark sie tatsächlich knirschen oder pressen. Oft fällt es erst auf, wenn man einen genaueren Blick auf die Schiene wirft: Schleifspuren, Kerben, durchgebissene Stellen oder deutliche Abriebmuster sind eindeutige Hinweise auf eine massive nächtliche Belastung. Manche Menschen reiben mit den Zähnen, andere pressen mit enormem Kraftaufwand – und manche beißen die Schiene sogar durch. Die damit einhergehende muskuläre Daueranspannung wirkt sich nicht nur auf den Kiefer aus, sondern oft auch auf Nacken, Schultern, die Wirbelsäule und sogar auf die Psyche.
Ein weiteres, häufig unterschätztes Symptom ist die sogenannte Kiefersperre, die viele Menschen vor allem morgens nach dem Aufwachen bemerken. Der Mund lässt sich dann nur schwer öffnen, das Kiefergelenk fühlt sich blockiert oder wie „eingeklemmt“ an. Auch Schmerzen beim Gähnen oder beim ersten Bissen am Frühstückstisch sind typische Hinweise auf eine Überlastung des Kiefergelenks durch nächtliche Anspannung.
In manchen Fällen kommen sogar Kieferkrämpfe oder stechende Schmerzen im Kieferbereich hinzu, insbesondere unmittelbar nach der Kiefersperre oder bei bestimmten Kaubewegungen. Diese Symptome können Betroffene stark verunsichern – sind jedoch ein weiteres Zeichen dafür, dass das Zusammenspiel der Kiefermuskulatur aus dem Gleichgewicht geraten ist.
In der ganzheitlichen Therapie dürfen daher auch emotionale Themen nicht ausgeklammert werden. Psychischer Stress, ungelöste Konflikte oder unterdrückte Gefühle beeinflussen direkt die Spannung im Kiefer- und Nackenbereich. Erst wenn Körper und Psyche gemeinsam betrachtet und behandelt werden, kann eine nachhaltige Besserung erreicht werden – und genau hier setzt meine therapeutische Arbeit an.
Nehmen Sie sich Zemichael Zeit
Wenn Sie vermuten, dass Ihre Beschwerden – sei es Kieferknacken, Nackenverspannungen, Tinnitus, Kopfschmerzen oder Schwindel – möglicherweise mit dem Kiefer zusammenhängen, kann es hilfreich sein, diesen Zusammenhang näher betrachten zu lassen.
In meiner Praxis nehme ich mir Zeit für eine ganzheitliche Betrachtung Ihrer Situation. Dabei steht nicht nur das Kiefergelenk im Fokus, sondern auch dessen Zusammenspiel mit der Körperhaltung, der Wirbelsäule und dem Nervensystem.
Manchmal genügt bereits ein geschulter Blick und ein offenes Gespräch, um mögliche Ursachen zu erkennen, die bislang unentdeckt geblieben sind. Wenn Sie diesen Weg gehen möchten, begleite ich Sie gerne – mit fachlicher Erfahrung, einem achtsamen Blick für das Ganze und einem individuellen Vorgehen, das auf Ihre Bedürfnisse abgestimmt ist.
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